Vier Tage haben wir uns gemeinsam mit den drei Inklusionsbeauftragten unserer Teilnehmerkreise Düren, Kleve und Unna die Zeit genommen, um uns über eine wirksame politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Kreisgebiet auszutauschen und gemeinsam konkrete Pläne für die einzelnen Kreise zu entwickeln. Im folgenden Blogbeitrag möchten wir die Schulung nachzeichnen.
Warum liegt unser Fokus auf der politischen Teilhabe?
Unser Projekt setzt bei der Förderung der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an. Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
1. Basis für verwalterische und politische Entscheidungen
Wieso braucht es diese Basis?
Orientierung und Expertise
Nicht in allen ihren Tätigkeitsfeldern können sich Kommunalverwaltungen zur Schaffung von umfassender Barriere-freiheit an bestehenden DIN-Normen und Vorgaben orientieren. Der Prozess der kommunalen Inklusion ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass es Best Practice Beispiele für eine vollumfängliche und wirksame Inklusionsstrategie in Kommunalverwaltungen zur Orientierung gibt. Barrierefreiheit ist nicht Teil von klassischen Verwaltungsausbildungen. Die Personallandschaft in den Verwaltungen ist selbst nicht so divers, dass automatisch ein Wissen von Expert*innen in eigener Sache zur Verfügung steht.
Basis einer demokratischen Gesellschaft
Den Kern der Inklusion bildet ein Miteinander. Das gemeinsame Gestalten einer Gesellschaft, in der alle ihren Platz haben und sich einbringen können. Ein wesentliches Feld, in dem der inklusive Gedanke vorgelebt und zugleich auch für andere Teile der Gesellschaft vorbereitet werden sollte, ist die Politik.
2. Basis für die eigene Arbeit
Inklusionsbeauftragte sehen sich einem breiten Tätigkeitsfeld gegenüber und sind mit einer Vielzahl von Anforderungen konfrontiert.
Der Fokus auf die politische Partizipation – und damit die Bildung einer Grundlage für die Entwicklung weiterer Schritte für eine inklusive Gemeinschaft – kann helfen, die eigene Arbeit zu strukturieren, sich auf dieser Basis systematisch in das Arbeitsfeld der kommunalen Inklusionsarbeit einzufinden und schließlich Maßnahmen zu planen, ohne die Orientierung zu verlieren.
Tag 1: Politische Aktivität
Betzavta-Workshop: Selbsterfahrung zum Einstieg
Die Schulung ist gestartet mit einem Selbsterfahrungs- und Demokratiebildungsworkshop namens „Betzavta“. Der Name stammt aus dem Hebräischen und bedeutet „Miteinander“. Die Idee des Workshops wurde in den 1990er-Jahren entwickelt und nimmt ihren Ursprung in der israelischen Friedensbewegung. Mehr Informationen zu dem Prinzip „Betzavta“ gibt es zum Beispiel auf der Seite der Vielfalt-Mediathek.
Eindrücklich hat sich bereits in unserer kleinen Workshoprunde gezeigt, wie komplex es sein kann, Außenstehende, die zum Beispiel nicht die Codes einer Gruppe kennen oder denen ein bestimmtes Vorwissen fehlt, in einen Gruppenprozess einzubinden. Selbst dann, wenn man eine grundsätzlich inklusive Haltung besitzt.
Die Selbstbestimmt Leben-Bewegung
Warum braucht es Selbstvertreter*innen, um wirkliche Inklusion in unseren Gemeinden, Städten und Kreisen zu erreichen? In seinem Vortrag konnte Dr. Michael Spörke mit Einblicken in die Selbstbestimmt Leben Bewegung in Deutschland genau diese Frage beantworten.
Dabei half der Blick in die deutsche Vergangenheit, um zu verstehen, wieso im Gegensatz zu anderen Ländern gerade in Deutschland die exkludierenden Sonderstrukturen nach wie vor derart vehement verteidigt werden: Sonderschulen und -einrichtungen waren aus der damaligen Perspektive, mit dem Wissen um die Verbrechen der Nazis, eine verständliche Maßnahme, um Menschen mit Behinderungen zu schützen.
Heute aber führen diese Sondereinrichtungen dazu, dass viele behinderte Menschen ein Leben am Rande der Mehrheitsgesellschaft führen. Sie sind für einen Großteil der Bevölkerung unsichtbar. Das führt auch dazu, dass ihnen bestimmte Rechte, wie das Recht auf Teilhabe an dem gesellschaftlichen Leben und etwa auf eine wirksame politische Teilhabe, nicht zugutekommen. Dass sich das ändern muss, besagt auch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 gültiges Recht ist.
Weiterführende Infos zum Thema „politische Aktivität“
- Raul Krauthausen beschreibt in seinem Blogartikel „„Disability Dongle“: Wenn nicht behinderte Lösungen für behinderte Menschen kreieren“, warum eine Beteiligung von Expert*innen in eigener Sache wichtig ist
- Für viele Menschen ist ein ehrenamtliches Engagement, etwa in der Politik, gar nicht möglich: Sie müssen viel arbeiten, sich um kleine Kinder oder pflegebedürftige Menschen kümmern oder sie werden an einer Teilhabe gehindert. Die Journalistin Teresa Bücker beschreibt in ihrem Artikel „Ist es radikal, wenn alle sich sozial engagieren?“ nicht nur die Problematik von vielen, sich ehrenamtlich einzubringen. Sie entwirft auch Lösungen, wie es anders gehen kann.
- Die Dokumentation „Sommer der Krüppelbewegung“ („Crip Camp“) zeigt wie aus einem Sommercamp für Jugendliche mit Behinderungen im New York der 1970er-Jahre eine politische Bewegung entstanden ist. Die Dokumentation gibt es auf Netflix oder YouTube (hier allerdings nur in englischer Sprache).
Hier die Ansicht auf Youtube
Tage 2 und 3: Inklusive Kultur
An diesen beiden Tagen stand das Rollenverständnis von Inklusionsbeauftragten im Zentrum. Als Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen gehört für die Beauftragten die Vermittlung der verschiedenen Anliegen an die Kreispolitik und die Stärkung einer Selbstvertretung zu den zentralen Aufgaben. Neben einem guten Kontakt zu den Menschen mit Behinderungen aus dem Kreisgebiet, braucht es auch eine klare Haltung gegenüber Verwaltung und Kreispolitik. Idealerweise bewegen sich die Beauftragten zwar einerseits innerhalb der verwalterischen und politischen Strukturen. Gleichzeitig agieren sie aber als Korrektiv, das die bestehenden Abläufe in Verwaltung und Politik kritisch untersucht und, falls nötig, einen Veränderungsprozess anstößt.
Zwischen Technik und Kunst: die Beauftragtenarbeit
In ihrem Vortrag zum Rollenverständnis von Behindertenbeauftragten beschreibt Aldona Gonzalez Thimm, Koordinatorin für Belange von Menschen mit Behinderung der Stadt Solingen, ein Spannungsfeld zwischen Technik und Kunst. Es gibt feste rechtliche und auch verwalterische Grundlagen für die Arbeit von Beauftragten. Zugleich ist aber auch die Nähe zu den Menschen entscheidend. Es braucht also nicht nur ein Hintergrundwissen zu den einzelnen Vorgängen, sondern auch viel Fingerspitzengefühl, um mit den unterschiedlichen Akteur*innen zusammenzukommen und gemeinsam Wege hin zu mehr Inklusion zu schaffen.
Wie eine Austausch und eine Zusammenarbeit zwischen Selbstvertreter*innen, Politik und Verwaltung aussehen kann, zeigt ein Clip vom Arbeitskreis Inklusion aus Solingen:
Die eigene Verwaltung mitnehmen
Am dritten Tag stand eine Frage im Zentrum: Wie können Behindertenbeauftragte die eigenen Kolleg*innen und Vorgesetzten in der Verwaltung und die Kreispolitik für die Themen Inklusion und insbesondere die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gewinnen?
Gemeinsam haben wir einige Kriterien gesammelt. Wesentliche Punkte waren:
- Begegnungsräume zwischen Selbstvertreter*innen, Politik und Verwaltung schaffen
- „sexy“ Themen finden, die allen Freude machen und das Thema „Inklusion“ positiv belegen
- erreichbare Ziele und überschaubare Projekte planen für motivierende Erfolgserlebnisse
- Kompetenzen bündeln: Akteur*innen kennenlernen und genau schauen, welche Kompetenzen sie in den Prozess einbringen können und möchten
- einen realistischen und konkreten Plan für benötigte Ressourcen für geplante Maßnahmen erstellen, damit Vorgesetzte direkt im Bilde sind
- Inklusion ist Chefsache: Vorgesetzte aktiv einbinden
- Verbündete finden: ein unterstützendes Netzwerk und ein direkter Kontakt zu verschiedenen Ämtern innerhalb der Verwaltung kann Prozesse erleichtern
Bei einem anschließenden Rollenspiel konnten die Inklusionsbeauftragten sich ein kurzfristig erreichbares Projektziel setzen und es anschließend einem*einer Vorgesetzten vorstellen. Dabei schlüpften alle drei einmal in die Rolle der Vorgesetzten, der Beobachter und der Inklusionsbeauftragten.
Fokus Gemeinsamkeiten
Im Nachmittagsbereich kam Maria Lamsfuß, Projektleiterin von „Wiehl enthindert“, zum Austausch dazu. Sie berichtete aus ihrer langjährigen Erfahrung im Bereich der kommunalen Behindertenpolitik. Entscheidend für erfolgreiche Inklusionsprozesse, so beschrieb es Maria Lamsfuß, war immer der direkte Kontakt zwischen Selbstvertreter*innen und insbesondere der Kommunalpolitik. Und auch die eigene Haltung war noch einmal Thema. Gerade wenn es darum geht, einen ersten Prozess in Kommunen oder Kreisen anzustoßen, hilft es, wenn man nicht gleich die großen Konfliktthemen angeht, sondern sich Projekte sucht, in denen ein enger Austausch und ein Kennenlernen aller Beteiligten möglich ist und alle Seiten Willens sind, teilzunehmen. Wenn erst einmal das Eis gebrochen und die vielen Gemeinsamkeiten erkannt sind, werden auch weitere Prozesse leichter.
Zur Veranschaulichung hat Maria Lamsfuß einen Clip der Beratungsstelle Extremismus mitgebracht, der sehr schön veranschaulicht, wie schnell sich vermeintliche Unterschiede überwinden lassen und was im zwischenmenschlichen Kontakt wirklich zählt:
Weiterführende Infos zum Thema „inklusive Kultur“
- Podcast: „Echt behindert!“ von der Deutschen Welle – Nach dem Motto „nichts über uns ohne uns“ werden in diesem Podcast politische, soziale und persönliche Themen behandelt. Und zwar von denen, die sich damit auskennen, den behinderten Menschen selbst.
Tag 4: Partizipative Struktur
Partizipative Struktur bedeutet:
- Kommunen ermöglichen Menschen mit Be-
- hinderungen, sich zu beteiligen.
- die gesetzlichen Vorgaben vor Ort werden bestmöglich umgesetzt.
- Der Rat verabschiedet verbindliche Satzungen.
- Die Kommune stellt barrierefreie Räume für die Interessenvertretung bereit.
- Die Kommune zahlt den Interessenvertreterinnen eine Aufwandsentschädigung für ihr Ehrenamt.
- Hauptamtliche Beauftragte erhalten einen ausreichend großen Stellenumfang.
- Nachteilsausgleiche werden aus dem kommunalen Haushalt gezahlt, die eine Beteiligung erst möglich machen, etwa für besondere Fahrdienste, Gebärdensprachdolmetscherinnen oder eine persönliche Assistenz zur Teilnahme an Sitzungen
Was macht eine partizipative Struktur aus?
Am vierten und letzten Tag ging es um die Frage, was es für verbindliche Prozesse und Elemente innerhalb der Verwaltung und Kreispolitik braucht, um eine nachhaltige effektive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. Im ersten Teil gab der Behindertenbeauftragte der Stadt Bielefeld Einblicke in die Inklusionsarbeit der Stadt Bielefeld. Dabei wurde deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit von Inklusionsbeauftragten mit der Selbstvertretung ist. Er arbeitet mit den Selbstvertreter*innen im Schulterschluss und schafft regelmäßig Begegnungsräume zwischen Verwaltung, Politik und Selbstvertretung. Auch dass er sowohl innnerhalb wie außerhalb der Verwaltung ein starkes Netzwerk pflegt, zu den einzelnen Verwaltungsbereichen einen kurzen Draht hat und die Freiheit besitzt, innerhalb der Verwaltung ohne Einschränkungen oder vorangeschaltete Dienstwege zu kommunizieren, ermöglicht ihm eine sehr agile Inklusionsarbeit.
Inklusionsbeiräte als verbindliches Element
Um eine verbindliche Selbstvertretungsarbeit zu sichern und auch die Wirksamkeit in Richtung Kreispolitik zu erhöhen, braucht es ein festes Gremium wie einen Behindertenbeirat, das selbstverständlich in die kreispolitischen Vorgänge eingebunden ist. Unsere Kollegin und ehemalige Projektleiterin des Vorgängerprojektes „Mehr Partizipation wagen“, Lisa Jacobi, hat in ihrem Vortrag Möglichkeiten aufgezeigt, wie eine Beiratsarbeit auf Kreisebene aussehen kann.
Thematisch sind für ein kreisweites Gremium vor allem zwei Schwerpunkte relevant:
- der Austausch der Mitglieder zu den Vorgängen in den eigenen Kommunen
- die Begleitung und Beratung der Kreispolitik
Beide Themen sind sehr umfangreich und es könnte sinnvoll sein, diese Themen voneinander zu trennen. So könnte es beispielsweise ein offenes Austauschforum über die Prozesse in den einzelnen Kommunen geben, in denen man von den unterschiedlichen Erfahrungen profitieren und die jeweiligen Prozesse noch effektiver gestalten kann. Kommt hier ein Thema auf, das auch von der Kreispolitik unterstützt werden kann, könnte dieses Thema dann mitgenommen werden in den Beirat, der sich bestenfalls ausschließlich mit kreispolitischen Themen befasst.
Damit ein solches Konstrukt gelingt, ist es wesentlich, dass alle Beteiligten wissen, welche Themen von der Kreispolitik bearbeitet werden und welche Themen kommunalpolitischer Natur sind.
Empfehlungen, wie eine wirksame Selbstvertretung auf Kreisebene gelingen kann, erarbeiten wir im laufenden Projekt und werden vor Ende des Projekts verfügbar sein.